Janina

die neue Schwester

Schüleraustausch aus Sicht einer Schwester

Ein Rückblick

So etwas habe ich noch nie erlebt, dabei fing alles ganz harmlos an. Streng genommen mit der Entscheidung meines Vaters im Juni des vergangenen Jahres, einen Austauschschüler aufzunehmen, während mein jüngerer Bruder ins Ausland ging. Nur eine Bedingung stellte er. Es sollte jemand aus Skandinavien, möglichst Norwegen, sein, weil er eine landschaftliche oder irgendwie emotionale Affinität zu diesem Land hat. Er mag die Ruhe, die Einsamkeit und die gewaltigen Bergmassive an den Fjorden. Wie ein Austauschschüler diese Attribute erfül-len sollte, war mir schleierhaft. Aber wenig später schickte uns die Austauschorganisation die Unterlagen von Marit. Darin schrieb sie, dass sie eine Katze hatte. Wir haben auch eine. Also schien das schon mal zu passen.

An einem tropischen Augustnachmittag war es dann soweit. Ein dunkelhaariges Mädchen in einem schwarzen Mantel und Rollkragenpullover stieg aus dem Zug. Die Verwunderung meiner Mutter über diese bei 35 °C in unseren Augen etwas unzweckmäßige Bekleidung konterte ich mit dem Einwand, dass Marit schließlich Norwegerin sei und damit wohl ein etwas anderes Temperaturempfinden habe als wir. Allerdings sollte ich im Laufe des Jahres lernen, dass dieser Gedanke zwar nicht grundsätzlich falsch war, aber falsch herum gedacht. Als wir schon die Übergangssachen aus den Schränken kramten, war für Marit noch Sommer, der für sie im darauf folgenden Jahr auch viel früher anfing als für uns.

Aber eigentlich geht es gar nicht um das Jahr mit ihr, das sehr schön war, in dem wir Weihnachten erstmals Milchreis aßen, lernten, dass Kjersti, Astrid Lindgren (auch wenn sie Schwedin ist) und Jan Garbarek ganz anders ausgesprochen werden als wir immer gedacht hatten, und in dem wir das Gefühl bekamen, im Süden zu leben, weil bei uns Weintrauben auf der Terrasse wachsen. Um die vielen Episoden, gemeinsamen Erlebnisse, den schwesterlich geteilten Liebeskummer soll es hier nicht gehen. Es geht um den Abschied, und der war schrecklich. Schon Tage vor Marits eigentlicher Abfahrt lief ich missgestimmt und griesgrämig durch die Welt. Der Rest der Familie täuschte Alltag vor. Wir taten alle so, als gäbe es den 28. Juni in diesem Jahr nicht. Marit weigerte sich, ihre Koffer zu packen. Sie war den ganzen Tag unterwegs. Musste dies noch erledigen und das. Freunde treffen, im Klosterpark verstecken spielen, sich von ihnen verabschieden. Ich war wütend. Wütend auf sie, weil sie nicht da war, wütend auf mich, dass ich mich so aus der Bahn werfen ließ, wütend auf den Schüleraustausch, denn von einem Happy End konnte bei uns ja keine Rede sein, so betrübt, wie wir alle waren, dass Marit wieder nach Hause fuhr und sie selbst erst, die gar nicht wieder nach Hause wollte und doch musste. Sie passte mittlerweile so gut in unsere Familie und ihren Freundeskreis. Sie sprach ein fantastisches Deutsch mit einer leichten regionalen Einfärbung, wenn sie „jut“ statt „gut“ sagte. Sie war die jüngere Schwester, die ich immer haben wollte.

Ich hatte mich entschieden, Marit nicht mit zum Bahnhof zu bringen, denn ich mag Abschiede nicht, schon gar nicht, wenn man auf Züge oder Flugzeuge wartet und irgendwann alles gesagt ist. Ich verabschiedete mich am Vorabend von ihr. Die Stimmung im Haus war erdrückend. Marit saß in ihrem Zimmer und klebte noch Fotos für ein Abschiedsgeschenk. Ich zwängte verzweifelt ein paar Sachen in ihren Koffer. Alles passte sowieso nicht rein. Ich versuchte ihr zu erklären, dass das mit dem Abschied alles gar nicht so schlimm sei, schließlich würde sie doch unseren Hausschlüssel mitnehmen und wäre jederzeit willkommen. Eigentlich sagte ich das nur, um mich selbst zu trösten. Wir standen dann noch lange laut schluchzend im Flur. Von Weinen konnte wirklich keine Rede sein. Es war schlimmer als in einer Hollywood-Tragödie. Irgendwann war mein Rücken nass von ihren Tränen. Aber in solchen Momenten gibt es kein Morgen. Es gab nur die Erinnerungen an eine erlebnisreiche gemeinsame Zeit und den Abschiedsschmerz. Irgendwann riss ich mich mit tröstlich gemeinten Worten los und fuhr zu meinem Freund mit dem Gefühl, Marit vielleicht nie wieder zu sehen. Mir auszumalen, dass ich sie drei Jahre später fast auf den Tag genau mit meiner eigenen kleinen Familie in Norwegen besuchen würde, dafür fehlte mir damals jede Fantasie.

Am nächsten Morgen stand ich natürlich auf dem Bahnsteig, so wie auch meine Mutter, deren letzte Sitzung ausgefallen war. Das glaube ich ihr bis heute nicht. Unsere Familie war also doch wieder beisammen, und auch ihre ganze Schulklasse hatte sich eingefunden. Ihre Schulkameraden sahen aus, als gingen sie zu einer Beerdi-gung und ehrlich gesagt fühlten wir uns alle so. Als der Zug einfuhr, machte Marit keine Anstalten einzusteigen. Andere Austauschschüler, die mit ihr gemeinsam zu einem Abschlussseminar fahren sollten, verabschiedeten sich von ihren Familien und winkten noch. Nur Marit blieb wie angewurzelt auf dem Bahnsteig stehen. Die Schaffnerin wurde unruhig und bat uns, etwas zu unternehmen. Schließlich stieg sie doch ein. Später erzählte mir Marit, dass sie überlegt hatte, an der nächsten Station gleich wieder auszusteigen und den nächsten Zug zurück zu nehmen. Das hat sie nicht getan.

Als wir nach Hause kamen, herrschte eine unglaubliche Leere im Haus, die sich erst allmählich wieder füllte, als mein Bruder aus dem Ausland zurückkehrte. Aber bis heute ist das Haus erst richtig voll, wenn alle wieder da sind. Inklusive Marit.